100 Jahre RadioDie Kultur des Zuhörens

Essay von Diemut Roether zu 100 Jahre Radio |
Ein altes Radiogerät steht auf einem Sideboard
Das Radio hat sich in den letzten 100 Jahren immer wieder neu erfunden (Teodoro Cavalluzzo/eyeem)
Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört das Radio: „Der Onkel Tobias vom RIAS ist da …“ Die Eingangsmelodie der Kindersendung in Berlin kann ich heute noch nachsingen – wie wohl viele Kinder, die in den 1960er-Jahren in Berlin groß wurden. Ebenso untrennbar mit dem Sonntag verbunden war für mich als Vierjährige die tiefe Stimme von Werner Höfer im „Internationalen Frühschoppen“, die regelmäßig während des Mittagessens aus dem großen Radioapparat von Braun erklang.
Das Radio war das Medium meines Vaters: Er hörte morgens, mittags, abends Nachrichten, politische Informationssendungen, Lesungen und vor allem Konzerte. Tief eingeprägt hat sich mir später auch die raunende Stimme von Joachim-Ernst Berendt, der die Jazzsendungen beim Südwestfunk moderierte, die Stimme von Elke Heidenreich als Else Stratmann bei SWF3 und das Intro der Sendung „Blickpunkt am Abend“. Erst Jahre später lernte ich, dass dies die ersten Takte von „On the Road again“ von Canned Heat waren.
Radio ist Klang und Klang wirkt emotional. Wie Gerüche können Klänge atmosphärische Erinnerungen wiederaufleben lassen. Wenn ich die ersten Takte von „On the Road again“ höre, bin ich wieder zwölf Jahre alt und sitze im Wohnzimmer meiner Eltern im Schwarzwald.
„Als im Oktober 1923 die erste Radiosendung in Deutschland ausgestrahlt wurde, konnte keiner ahnen, was für eine Entwicklung das Medium Radio nehmen würde."
In diesem Jahr können wir in Deutschland das 100-jährige Bestehen des Mediums Radio feiern. „Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin. Im Vox-Haus. Auf Welle 400 Meter …“: Mit diesen Worten begann im Oktober 1923 die Geschichte eines Mediums, das die Menschen unmittelbar fasziniert haben muss. Denn obwohl Radio hören in den ersten Jahren noch Luxus war, stieg die Zahl der angemeldeten Hörer rasch an. Waren es im Januar 1924, also drei Monate nach dem Start der ersten Sendung, gerade mal 1.580 „Teilnehmer“, wie die Hörerinnen und Hörer damals genannt wurden, so war die Zahl im Dezember 1924 bereits auf eine halbe Million und ein weiteres Jahr später auf eine Million gestiegen.
Portrait von Diemut Roether, Leiterin des Fachdienstes epd Medien
Diemut Roether (Guido Schiefer)
Diemut Roether leitet seit 2009 den Fachdienst epd medien als verantwortliche Redakteurin. Nach dem Studium der Journalistik, Literatur, Geschichte und Politik und einem Hörfunk- Volontariat bei der Deutschen Welle arbeitete sie 1992/93 als Redakteurin bei der taz Bremen. Von 1993 bis 2000 war sie Redakteurin bei ARDaktuell in Hamburg. Seit 2006 Mitglied verschiedener Jurys. 2011 erhielt sie den Bert-Donnepp-Preis für besondere Leistungen im Medienjournalismus. Gemeinsam mit Hans Sarkowicz und Clemens Zimmermann hat sie das Buch „100 Jahre Radio in Deutschland“ herausgegeben, das bei der Bundeszentrale für Politische Bildung erschienen ist. www.bpb.de
Das neue Medium erfüllte viele Funktionen: Die Hörerinnen und Hörer konnten sich mithilfe der Vorträge, die gesendet wurden, weiterbilden, die Nachrichten informierten schneller als die Zeitung über das aktuelle Geschehen, viele schätzten die Zeitansage, die ihnen half, den Tag zu strukturieren, und vor allem gab es Musik zur Unterhaltung. All diese Funktionen, die das Radio erfüllt, haben es dem Medium über die Jahrzehnte ermöglicht, sich immer wieder neu zu erfinden und populär zu bleiben. Die Radiogeräte wurden immer mobiler und kleiner und ließen sich überallhin mitnehmen. All das trug dazu bei, dass das Radio zum Alltagsbegleiter wurde, und die Beliebtheit des Mediums ist ungebrochen: Drei Viertel der Menschen in Deutschland hören täglich Radio.
Seit dem Aufkommen des Privatradios in den 80er-Jahren hat sich der Hörfunkmarkt in Deutschland enorm ausdifferenziert: Die Radiomacher begannen, die Wellen vermeintlich passgenau für spezielle Zielpublika zu formatieren. Nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse gibt es derzeit mehr als 400 unterschiedliche Radiosender in Deutschland, doch die meisten hören sich sehr ähnlich an: Sogenannte Adult Contemporary Programme konzentrieren sich vor allem auf Unterhaltung und spielen die Musik, die das Publikum an seine Jugend erinnert, also die Hits der vergangenen Jahrzehnte. Lange Wortbeiträge wurden in diesen Programmen zum Störfaktor.
Doch dann wurden Podcasts populär, also Radio auf Abruf, und es zeigte sich, dass die Leute nach wie vor gern zuhören. Gefragt sind Persönlichkeiten und Stimmen, denen die Menschen vertrauen. In diesem Meer von Audio suchen sie Inseln der Verlässlichkeit. Der im Februar 2020 vom NDR ins Leben gerufene Podcast „Coronavirus-Update“ mit dem Virologen Christian Drosten gehörte nach einem Jahr mit insgesamt 86 Millionen Abrufen zu den erfolgreichsten Podcasts in Deutschland.
Eine Frau sitzt in der Bahn am Fenster mit Kopfhörern in den Ohren, die mit ihrem Handy verbunden sind.
Radio hören auf Abruf: Podcasts sind seit der Pandemie besonders populär (imago images / PantherMedia / matej kastelic)
Überhaupt zeigte das Radio in der Pandemie, was seine Stärke ist: Es stellte Öffentlichkeit her in einer Zeit, in der es keine öffentlichen Veranstaltungen gab. In Gesprächssendungen konnten die Menschen über ihre Sorgen und Ängste reden, und damit erfüllten Sender wie Deutschlandradio eine ganz wichtige Aufgabe: Sie brachten die Gesellschaft ins Gespräch mit sich selbst.
Das Radio hat in den vergangenen 100 Jahren bewiesen, wie wandlungsfähig es ist. Mit der Digitalisierung findet es neue Ausspielwege und vor allem versendet es sich nicht mehr. Wer eine Sendung verpasst hat, kann sie jetzt in der Audiothek nachhören. Und Radiosender wissen schon lange, wie man den Dialog mit dem Publikum pflegt und Communitys bildet. Zugleich wächst die Konkurrenz im Internet. Wenn Radio also relevant bleiben will, muss es vor allem Anlass zum Hinhören geben, Diskussionsstoff bieten, zum Weiterdenken anregen. Radioprogramme müssen sich wieder unterscheiden, damit sie eingeschaltet werden. Wer Musik hören will, ist mit einer Playlist besser bedient.
Je hitziger in den sozialen Netzwerken diskutiert wird, umso wichtiger wird die Kulturtechnik des Zuhörens, das Bemühen, die Argumente der anderen zu verstehen, bevor man ihnen entgegnet oder gar über den Mund fährt. Radio ist mehr als Musik oder Audiojournalismus, und entgegen den Behauptungen vieler Radioberater ist es auch mehr als Mood Management. Ein gut gestaltetes Programm bietet Orientierung und hilft der Gesellschaft, sich selbst besser zu verstehen.