Man möchte es kaum glauben: Trotz des allgegenwärtigen Informationsüberflusses durch das Internet gehört das Radio immer noch zu den meistgenutzten Medien in Deutschland, Millionen Menschen schalten ein. Wir tragen den Rundfunk im Namen: Das einstige Berliner Funk-Orchester, das heute Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) heißt, geht auf die erste musikalische Funkstunde vom 29. Oktober 1923 zurück, also auf die Geburtsstunde des öffentlichen Radios in Deutschland überhaupt.
Als das RSB ins Leben gerufen wurde, war das Radio etwas vollkommen Neues und für die meisten Menschen fast unvorstellbar. Plötzlich konnten Hunderttausende mit klassischer Musik erreicht werden, auch Menschen, die keinen Zugang zu Musik oder Konzertorten hatten. Damals war Radio eine große Vision. Das muss man sich immer wieder klarmachen. Und auch heute, 100 Jahre später, ist es ein großartiges Medium, um unsere bunte Gesellschaft zu erreichen. Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass neben unseren großen Abokonzerten auch experimentelle Formate einen Sendeplatz bekommen. Dazu gehört „Mensch, Musik!“, in dem das RSB interdisziplinäre Performances entwickelt, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen wie Klimawandel, Identität oder Populismus beschäftigen. Ich halte es für unabdingbar, dass die Klassikbranche mit solchen neuen Formaten experimentiert und schaut, wie man eine solche Performance mit Orchester und elektronischer Musik, aber auch Bild, Tanz oder Schauspiel musikalisch und auch im Radio umsetzen kann.
VLADIMIR JUROWSKI ist Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler. Ausbildung an der Musikhochschule des Konservatoriums in Moskau, ab 1990 Studium in Dresden und Berlin. 1995 debütierte er beim britischen Wexford Festival und im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden. Er war erster Kapellmeister an der Komischen Oper Berlin und Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera. Von 2007 bis 2021 war er der Principal Conductor des London Philharmonic Orchestra. Seit 2017 ist Vladimir Jurowski Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des RSB.
In den Anfangsjahren war der Rundfunk ein revolutionäres Medium, für das eigene Werke verfasst wurden. Im Rahmen unserer Funkkonzerte führen wir solche Funkspiele und Schauspielmusiken auf, also Opern oder Theaterstücke, die speziell für das Radio umgeschrieben und mit erklärenden Texten versehen wurden. Da gibt es wunderbare Werke, die vielleicht einoder zweimal gespielt und dann vergessen worden sind. Ich finde es wichtig, dass man diese öffentlich spielt, das hat sich das RSB zur Aufgabe gemacht. Im Funkkonzert am 1. Oktober dirigiere ich russische Schauspielmusiken, von Schostakowitsch (nach Majakowskis „Die Wanze“), von Gnessin (nach Gogol) und Schebalin (nach Puschkin). Alle drei Werke wurden in den 1920er-Jahren von dem Regisseur Wsewolod Meyerhold speziell für das Radio inszeniert.
Für mich zeichnet ein Rundfunkorchester aus, dass es sich nicht auf ein bestimmtes Repertoire oder einen Klang spezialisiert, sondern dass es sehr beweglich ist. Manche Werke hat niemand aus dem Orchester zuvor gehört, aber schon in der ersten Probe ist die Musik gleich da und erkennbar. Die Musiker müssen alles spielen können, und zwar sofort. Du kommst zum Dienst, eine Stunde später geht die rote Lampe an und es wird aufgezeichnet.
Dazu gehören neue Werke, die wir in Auftrag geben. Das ist meiner Meinung nach eine besondere Aufgabe der Rundfunkorchester und -anstalten: Neue Musik zu spielen und zu unterstützen. Eine Gelegenheit dafür bietet „Ultraschall“, das jährliche Festival für Neue Musik, das von Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur veranstaltet wird. Das RSB gehört da schon längst zur festen Besetzung, im Januar 2024 dirigiere ich unter anderem die Uraufführung von Olga Rayevas „Auf dem Meer“ für Bayan (Knopfakkordeon) und großes Orchester. Darin verarbeitet sie musikalisch ihre Erinnerungen an die ukrainische Hafenstadt Mariupol, die jetzt im Krieg zerstört wurde. Ein eindrückliches, kraftvolles Werk, das unbedingt einem großen Publikum bekannt werden sollte. Und auch ein Auftragswerk schmückt unsere Jubiläumssaison: die Deutsche Erstaufführung von Peter Eötvös‘ Harfenkonzert, das wir am 25. Februar mit Xavier de Maistre als Solist im Programm haben.
Neben den unbekannten, exklusiven Werken spielen wir natürlich auch Beethovens Missa Solemnis und Bachs h-Moll-Messe. Wir wollen ein neues, nicht unbedingt klassikaffines Publikum erreichen, dieser Wunsch kommt auch aus dem Orchester. Denn das Publikum gibt uns ja auch viel zurück: Wenn beim „Konzert für alle“ plötzlich Zuhörer aufstehen und zu unserer Musik tanzen oder nach einem „Mensch, Musik!“-Konzert noch lange mit einem Glas Wein im Foyer stehen und über das Erlebte diskutieren, dann bereichert das uns Musiker sehr.
Ich bin stolz, mit dem RSB ein Orchester zu dirigieren, das sich für gesellschaftliche Belange einsetzt. Der Wunsch, sich mitzuteilen und teilzuhaben, ist im RSB sehr stark und zeigt sich in den vielen Kammermusik- und Education-Projekten, die zu 90 Prozent aus dem Orchester selbst kommen. Diese konstruktive Offenheit und große Emotionalität beim Musizieren macht das Orchester so besonders, da ist ein Knistern, das sich auch auf das Publikum überträgt.
In Deutschland existieren die meisten Rundfunkorchester weltweit, das ist ein großes Geschenk und Privileg. Aber wir haben auch die Verantwortung, diese Reichweite zu nutzen, um mit außergewöhnlichen, interdisziplinären Konzerten gemeinsam neue und junge Menschen zu erreichen.