60 Jahre Deutschlandfunk"Nicht schnell, sondern richtig berichten"

Chefredakteurin Birgit Wentzien und Matthias Gierth, Hauptabteilungsleiter Kultur von Deutschlandfunk, sprechen im Interview anlässlich des 60. Jubiläums von Deutschlandfunk über die Anfänge des Senders und Verpflichtungen für die Zukunft.

Das Funkhaus des Deutschlandfunks in Köln bei Nacht.
Am 1. Januar 1962, 16.00 Uhr, erklangen die ersten Nachrichten, daraufhin hielt Gründungsintendant Hermann Franz Gerhard Starke eine kurze Ansprache. Der Deutschlandfunk war auf Sendung.
Laut Bundesgesetz vom 29. November 1960 war der Auftrag des Deutschlandfunks, in einem deutschsprachigen und einem mehrsprachigen Europa-Programm, ein "umfassendes Bild Deutschlands" zu vermitteln. Wie deuten Sie diesen anspruchsvollen, aber auch interpretationsfähigen Auftrag heute?
Birgit Wentzien: Gründungsintendant Starkes Wort gilt weiterhin. Die Vermittlung eines "umfassenden Bild Deutschlands" ist unser Auftrag und Intendant Starke hat vor 60 Jahren zum Start von Deutschlandfunk auch formuliert, alle im Sender seien "entpolemisierter und entgifteter Wahrheit" verpflichtet.
Matthias Gierth: Der Auftrag ist vielleicht so wichtig wie selten zuvor. In Zeiten, da viele nur an ihre eigenen Wahrheiten glauben und in ihren Filterblasen leben, soll unser Programm das ganze Bild zeigen. Nicht schwarz, nicht weiß, sondern alle Töne! Das schließt nicht aus, dass einzelne Beiträge nur bestimmte Facetten beleuchten. Aber in der Summe des Programms müssen wir Vielfalt abbilden.
Bis zum Mauerfall als "Wiedervereinigungssender" oder "West-Ost-Sender" wurde der Deutschlandfunk nach 1990 als "Integrationsprogramm" gesehen. Welche vorwiegende Funktion schreiben Sie dem Deutschlandfunk im 60. Jahr seines Bestehens zu?

Birgit Wentzien:
 Die Geschichte dieses Hauses verpflichtet uns zu Integration, Information und Vielfalt und das in einer Zeit, in der manche nicht mehr schätzen, was wir leben: Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Meinungsfreiheit.
Matthias Gierth: Dass Demokratie nicht selbstverständlich ist, sondern jeden Tag neu erarbeitet und errungen sein will, merken wir derzeit besonders, da die politischen Ränder erstarken. Mit unserem Programm zur Meinungsbildung zu befähigen und durch Information zur Demokratiefähigkeit des Einzelnen einen Beitrag zu leisten, das ist eine zentrale Aufgabe unseres Senders.
Was führt der Deutschlandfunk als Erbe fort und was soll als neue Qualität hinzukommen?
Birgit Wentzien: Wir wollen mit unseren Inhalten auf allen Ausspielwegen neue Nutzerinnen und Nutzer erreichen und die bisherige Qualität halten: Nicht schnell, sondern richtig berichten und dabei auch einen langen Atem haben und Mut, um Neues zu probieren.
Matthias Gierth: Unsere Richtschnur ist und bleibt unser journalistisches Handwerkszeug und Selbstverständnis: Verlässliche Recherche, Faktentreue, Trennung journalistischer Gattungen, Vieraugenprinzip, transparente Fehler-Kultur, wo wir hinter eigenen Ansprüchen zurückbleiben. Das gilt im Linearen wie bei unseren digitalen Produkten der Zukunft.
In den vergangenen 60 Jahren gab es viele spannende Aufnahmen, Reportagen und Interviews. Gibt es ein Ereignis, das Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben ist?
Birgit Wentzien: Das Live-Gespräch per Telefon am 24. Oktober 1989 zwischen Wolf Biermann in Hamburg und Bärbel Bohley in Ost-Berlin in den "Informationen am Morgen" (Moderation: Wolfgang Labuhn). Biermann spricht vom Moment großer Skepsis und großer Hoffnung, Bohley sagt, Biermann solle doch zur Demo am 04. November 1989 nach Berlin kommen. Niemand wusste, was geschehen würde. Es war eine vollkommen offene Situation und das ist beim Hören in jeder Sekunde zu spüren.
Matthias Gierth: Für mich sind es die Summe unserer Sendungen, die das Besondere ausmachen. 60 Jahre Deutschlandfunk, das sind 60 Jahre Zeitgeschichte: die Entwicklung der Bundesrepublik, die Einheit Deutschlands, die Einigung Europas – und immer waren Kolleginnen und Kollegen mit ihren Mikrofonen und Stimmen dabei. In dieser Tradition (weiter) zu arbeiten, ist ein echtes Privileg.

Die Fragen stellte Elisabeth Ebert, Abt. Kommunikation und Marketing