Krieg in der UkraineOft fern, nur selten nah der Front

Ein Jahr Kriegsberichterstattung über die Ukraine

Von Sabine Adler, Gesine Dornblüth, Thielko Griess, Florian Kellermann, Frederik Rother und Peter Sawicki, Deutschlandradio |
Schatten von Militärhelm, Maschinengewehr und Stacheldraht vor einer in den Farben der Ukraine und Russlands bemalten Wand
Titelthema im Februar-Magazin: Ein Jahr Kriegsberichterstattung über die Ukraine (Picture Alliance/Zoonar/Michael C. Turner)
Der Krieg, den Russland am 24. Februar mit einer flächendeckenden Invasion auf die gesamte Ukraine ausweitete, hatte schon Monate, wenn nicht Jahre seine Schatten vorausgeworfen. Die drei Programme von Deutschlandradio haben über die stetige russische Aufrüstung entlang der Grenze zur Ukraine und die damit wachsende Kriegsgefahr regelmäßig berichtet. Auch über die sich verschärfende Rhetorik des Kremls gegen das Nachbarland, die seit Jahren nichts Gutes verhieß. Aber als Russland die Ukraine in jener Nacht im Februar tatsächlich überfiel, konnten auch wir es zuerst nicht fassen. Seitdem beobachtet ein ganzes Team von Berichterstattern Tag und Nacht die Entwicklung im Kriegsgebiet, um in den drei Deutschlandradio- Programmen unser Publikum möglichst aktuell, aber auch facettenreich, hintergründig und vor allem verlässlich zu informieren.
Wir vom „Ukraine-Team“ sind zwei Journalistinnen und vier Journalisten mit Osteuropa-Spezialisierung und fast alle mit Korrespondenten-Erfahrung: Gesine Dornblüth, Thielko Grieß, Florian Kellermann, Frederik Rother, Peter Sawicki und Sabine Adler. Wir standen noch nie vor derart komplizierten Ausgangsbedingungen. Wie berichtet man über einen Krieg, wenn wegen des enormen Sicherheitsaufwands jeweils nur wenige Kollegen ins Kriegsgebiet reisen können?
Wir haben alle unsere Kontakte zu ukrainischen Partnern, Freunden und Bekannten, die wir über das ganze Land verstreut in vielen Städten kennen, aktiviert.
Am Internationalen Tag der Pressefreiheit protestieren Journalistinnen und Journalisten im Mai 2022 in München vor dem russischen Konsulat
Am Internationalen Tag der Pressefreiheit protestieren Journalistinnen und Journalisten im Mai 2022 in München vor dem russischen Konsulat (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Sachelle Babbar)
Die allermeisten Ukrainerinnen und Ukrainer waren und sind bereit, kurze Updates zu geben und jeweils ihre Lage zu schildern – solange es Strom gibt. Wenn sie können, antworten sie, selbst wenn sie oft gerade mit den Folgen der Zerstörungen kämpfen. So können wir mit ihrer Hilfe etwa Meldungen über russische Raketenangriffe verifizieren. Auch nach Deutschland geflohene Ukrainer sind gute Ansprechpartner, denn oft haben sie noch enge Verbindungen zu ihren Angehörigen im Land. Dank unserer langjährigen Kontakte zu renommierten Hilfsorganisationen, wie denen von Olexandra Matwitschuk und Irina Scherbakowa, gelingt es, das Thema Kriegsverbrechen genauer zu verfolgen. Das ukrainische Zentrum für bürgerliche Freiheiten in Kiew wie auch die Nichtregierungsorganisation Memorial, die 2021 in Russland verboten wurde, dokumentieren seit Jahren solche Vergehen an der Zivilbevölkerung, nicht zuletzt dafür haben sie zusammen mit dem Menschenrechtsaktivisten Ales Bjaljazki aus Belarus den Friedensnobelpreis 2022 bekommen. Ukrainische Regierungsmitglieder und hochrangige Beamte werden von uns interviewt, per Video oder Telefon, oder wenn sie sich zu Besuchen in Deutschland aufhalten. Kurzum, wir sammeln an Informationen von unmittelbar Betroffenen, was immer wir von Augenzeugen bekommen können. Bei vielen Meldungen, die man auf die Schnelle zunächst nicht überprüfen kann, gibt es im Nachhinein dann doch Klarheit, auch dank der Analysen von Datenjournalisten und Militärexperten, die das Geschehen an der Front mithilfe öffentlich verfügbarer Informationen rekonstruieren.
Aus bzw. über Russland zu berichten, ist ungleich schwieriger. Dort tobt kein Krieg, bestenfalls gibt es punktuelle Angriffe auf grenznahe Militärstützpunkte. Doch die allumfassende Zensur trifft auch uns als ausländische Korrespondenten hart. Wer den Krieg nicht durchgängig ausschließlich als militärische Spezialoperation bezeichnet, riskiert eine langjährige Gefängnisstrafe. Freie Berichterstattung ist unter Umständen hoch gefährlich und damit fast unmöglich.
Viele unabhängige und kritische Köpfe haben ihre Heimat verlassen. Von ihnen erfahren wir, wie sie über ihr Krieg führendes Land denken und wie es ihnen als Oppositionelle im Exil geht. Außerdem halten wir weiter Kontakt zu Russen, die im Land geblieben sind, auch zu solchen, die den Krieg rechtfertigen. Recherchen vor Ort kann das allerdings nicht ersetzen. Russische Medien, einschließlich der offiziellen Umfrageinstitute, geben keine wirkliche Auskunft über die Stimmung im Land. Sie dienen ausschließlich der Propaganda. Sogar Routine-Aufgaben, wie die Wiedergabe russischer Politiker-Statements, stellen uns in diesem Krieg vor neue Herausforderungen. Sollen wir ihre offensichtliche Lügenpropaganda auch noch in unserem Programm verbreiten helfen? Wir meinen, dass wir sie zumindest einordnen müssen.
Ein ukrainischer Soldat nimmt während eines Artilleriefeuers in Donezk am 3. September 2022 ein Selfie vor einem Panzer auf
Update von der Front – ein Selfie während eines Artilleriefeuers in Donezk im September 2022 (AP Photo/Kostiantyn Liberov)
Sehr viele Redaktionen diskutieren im Deutschlandradio täglich, wie über den Krieg in den Sendungen informiert werden muss, denn er beeinflusst fast alle Lebensbereiche. Vor diesem Hintergrund sind wir uns einig, dass wir uns Kriegsmüdigkeit nicht gestatten dürfen. Auch, weil sich in der Ukraine das Schicksal der freien westlichen Welt entscheidet.
Die Meinung unserer Hörerinnen und Hörer ist dabei für uns ein unerlässlicher Gradmesser. Deswegen lassen Sie uns gerne wissen, was Sie bewegt und worüber Sie noch mehr erfahren möchten: hoererservice@deutschlandradio.de
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