100 Jahre RadioLandkarten des transkulturellen Hörens

Das Projekt „Listening to the World“ nimmt das 100-jährige Jubiläum des Deutschen Rundfunks zum Anlass, über die eigenen Ländergrenzen hinweg zu lauschen und der Wirkungskraft des Radios in seiner transkulturellen Vernetzung auf den Grund zu gehen.

Profil eines jungen Mannes mit Kopfhörern am Ufer des Río de la Plata, Uruguay
Aufnahme während des ersten „Bauhaus.Listening.Workshop“ in Montevideo, Uruguay (Taruman Corrales/Goethe-Institut)
"Zuhören ist wahrscheinlich die am meisten unterschätzte Grundfähigkeit", konstatiert Otto Scharmer, Forscher im Bereich sozialer Veränderungsprozesse. Dabei ist das Zuhören für unsere Orientierung in Raum und Zeit, für unsere Identitätsfindung und Kommunikationsfähigkeit von absolut zentraler Bedeutung. Richtiges Zuhören ist eine bewusste Haltung, sich selbst, den anderen und der Umwelt gegenüber, und bildet eine wichtige Grundlage für das Miteinander aller Lebewesen auf Erden.
Nun gibt es kaum ein Medium, das die Kulturtechnik des Zuhörens in den letzten 100 Jahren nachhaltiger beeinflusst und geprägt hat als das Radio. Und zwar weltweit. Denn von Anfang an ist der Rundfunk auch ein Medium der Globalisierung und spielt eine Schlüsselrolle in der Kolonialgeschichte. Von der deutschen Großfunkstelle in Nauen, die bereits seit 1911 an einer Funkverbindung zwischen dem Deutschen Kaiserreich und seinen afrikanischen Kolonien in Togo und Namibia arbeitet, bis zu dem von den Niederländern 1923 auf der Insel Java errichteten Langwellensender „Malabar“. Im selben Jahr wird von Ceylon aus aufgezeichnete Musik mit Radiotechnologie eines gekaperten deutschen U-Boots gesendet, während in Jerusalem unter britischem Mandat der „Palestine Broadcasting Service“ ab 1936 Programme sowohl in Arabisch als auch in Englisch und Hebräisch ausstrahlt. Überall auf der Welt werden Sendeanlagen gebaut, Antennen aufgespannt, mit dem Ziel, die Kolonien mit ihren oft Tausenden von Kilometern entfernten Heimatländern zu verbinden und Kontrolle über die Territorien zu gewinnen.
Nathalie Singer, Professorin für experimentelles Radio an der Bauhaus-Universität Weimar
Nathalie Singer (Bauhaus-Universität Weimar)
NATHALIE SINGER ist Professorin für Experimentelles Radio an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie arbeitet als Radiokünstlerin, Produzentin und Kuratorin, komponiert für verschiedene Medien und publiziert über Klangkunst. Aktuell hat sie das Real.Sense.Lab ins Leben gerufen und leitet zusammen mit lokalen Kurator*innen im Rahmen des Projekts „Listening to the world – 100 Jahre Radio“ die „Bauhaus.Listening.Workshops“ auf drei Kontinenten.
Jede Weltregion hat daher ihre eigenen Geschichten, in denen das Radio als Mittel des Machtmissbrauchs, der Propaganda, aber auch des Widerstandes, der Gemeinschaftsbildung und der Identitätsstiftung genutzt wurde und wird. Auf den Philippinen bemächtigen sich beispielsweise die Amerikaner Anfang des 20. Jahrhunderts des Radios, um das Bewusstsein der Filipinos nach ihrem Vorbild zu gestalten. Die englische Sprache und Popmusik aus dem Westen wird erstmals im Radio gehört und daraufhin von philippinischen Sendern übernommen. Das sich neu gründende Land Israel nutzt wiederum den Funk, um den jüdischen Einwanderern aus aller Welt das „richtige“ Hebräisch beizubringen und somit eine nationale Identität zu konstruieren. Über mehr als 100 Jahre hinweg werden Gesellschaften durch das Radiohören geprägt, ihre Identität und Wertesysteme von zum Teil geografisch weit entfernten Kulturen beeinflusst.
Von den historischen Sendeanlagen sind heute meist nur noch Ruinen übrig. Von der Natur zurückerobert, sind sie und damit ihre Geschichten in den Dornröschenschlaf versunken. Erst im Zuge der postkolonialen Aufarbeitung werden ihre Spuren und Archive langsam wieder ans Tageslicht gehoben – sie werfen Fragen auf: Unter welchen Bedingungen wurden diese kostspieligen Infrastrukturen der Macht erbaut und in welche Interaktion traten die unsichtbaren Informationskanäle mit der einheimischen Bevölkerung, ihren Kulturen und Glaubenssystemen? Wer durfte senden und wer hörte zu? Wie wurde das Zusammenleben davon nachhaltig beeinflusst? Und was klingt davon heute noch nach? Wie lassen sich Landkarten des transkulturellen Hörens zeichnen, die geografische Grenzen überwinden? Da sich Radiowellen über territoriale Grenzen hinwegsetzen, sind diese Geschichten oft vernetzt und miteinander verbunden.
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen wir uns zunächst unvoreingenommen gegenseitig zuhören und die eigenen kulturell erlernten Praktiken kritisch hinterfragen. Dazu braucht es Räume, in denen auch den leisen und verstummten Stimmen Gehör verschafft wird. Und nicht zuletzt stellt sich natürlich die Frage nach den Mechanismen von Macht und Widerstand in unserer heutigen globalisierten Medienlandschaft und der Rolle der Kulturtechnik des Zuhörens für die Gestaltung zukünftiger Medien und des kommenden gesellschaftlichen Wandels.