Anna Steinbauer, geboren 1985, freie Kulturjournalistin, Redakteurin und Autorin. Sie studierte Germanistik, Romanistik und Deutsch als Fremdsprache sowie Film- und Theaterkritik. Seit 2015 arbeitet sie u.a. bei der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und schreibt als Autorin für unterschiedliche Medien vor allem über Kulturthemen. Im Jahr 2020 war sie Mitglied der Jury „Hörspiel des Monats/Jahres“.
In keinem anderen Land werden so viele Hörspiele so aufwendig produziert wie in Deutschland. Jedes Jahr werden etwa 300 Hörspiele hergestellt, fast täglich gibt es eine Hörspiel-Premiere in einem deutschen Radiosender. Das Themenspektrum und die Gestalt der ausgestrahlten Stücke sind dabei so vielfältig und bunt wie die Gesellschaft, die sie abbilden und erreichen wollen, und reicht von der mit minimalistischen Mitteln im Heimstudio produzierten Groteske über die mehrteiligen Hörspieladaptionen literarischer Bestseller mit prominenter Sprecherbesetzung bis hin zu Stücken, die sich an der Grenze zu Klangkunst, Feature oder Collage bewegen. Es finden sich Serien, Kammerstücke, Krimis, die Themen wie Integration, Migration, Künstlerdasein, gesellschaftliche Ausgrenzung, Gleichberechtigung und Identitätssuche selbstreflexiv verhandeln. Ganz abgesehen von den zahlreichen Kinderhörspielen und Radiokrimis.
Das Hörspiel ist die erste originäre Kunstform, die das Radio hervorgebracht hat. Ohne Radio würde es nicht existieren. Es blickt auf eine lange, erfolgreiche Geschichte seit seinem Beginn in den 1920ern und einer Renaissance in der Nachkriegszeit zurück. Obwohl die Produktion durch die Möglichkeiten der digitalen Welt nicht mehr zwingend mit den Rundfunkanstalten verbunden ist, spielt der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine singuläre Rolle: Jede der neun Landesrundfunkanstalten besitzt eine eigene Hörspielredaktion, dazu kommt das bundesweite Deutschlandradio mit zwei Hörspielstandorten. In diesen sind sowohl die technischen Möglichkeiten, die Expertise, die Reichweite und vor allem die Etats vorhanden, die es vielen Autor*innen ermöglichen, ihre Hörspiele umzusetzen und damit ihr Geld zu verdienen. Dabei erweist sich die aktuelle deutsche Hörspiellandschaft als überraschend politisch, zunehmend divers und experimentell. Man hört mehrsprachige Stücke und Protagonist*innen marginalisierter Gruppen, die andere Sprachen, Sichtweisen und bisher ungehörte Perspektiven zu Wort kommen lassen. Feministische Stücke, die nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern auch besetzungstechnisch Geschlechtergerechtigkeit umsetzen. Solche Hörspiele sind nicht die Regel, sind aber immer häufiger im Programm der großen Radioanstalten zu finden. Besonders spannend wird es, wenn sich zudem Genregrenzen vermischen und literarische und dokumentarische Stoffe ineinanderfließen.
Obwohl das Hörspiel eine Nischenkunstform ist, nimmt es im deutschen Rundfunkgefüge einen wichtigen Platz ein, den der Programmauftrag der Öffentlich-Rechtlichen sichert. Diese verpflichten sich dazu, eine „Grundversorgung“ an Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung zu gewährleisten – im Gegensatz zu Ländern wie z.B. Italien, bei dem die nationalen Radioprogramme in einer staatlich kontrollierten Organisation zusammengefasst sind, oder den USA, wo sich das nicht kommerzielle National Public Radio zum größten Teil über Sponsoring und Spenden finanziert. Damit kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Säule im demokratischen Rechtsstaat eine wichtige Aufgabe zu. Über die Radiofrequenzen, Podcasts und Streams erreicht das Hörspiel meist mehr Publikum als Bücher oder Theaterinszenierungen. Gerade in der Corona-Zeit ist der Konsum von Audio-Inhalten signifikant gestiegen. Dem gesprochenen Wort – ob linear oder on demand – kommt somit als Gewinner der Medienlandschaft eine Schlüsselfunktion zu. In diesem Sinne wünscht man sich mehr von diesen Hörspielen, die Diskurse nicht über, sondern mit anderen führen und die aufzeigen, wo es Missstände und Problematiken gibt, die in der Mehrheitsgesellschaft oftmals untergehen.
Aus dem Magazin, Ausgabe Dezember 2021