Jörg Radtke ist Senior Researcher am Institut für Nachhaltigkeitsforschung (RIFS) – Helmholtz Zentrum Potsdam. Er leitet mehrere Energiewende- Forschungsprojekte, in denen Potenziale der Bürgerbeteiligung erforscht werden. Erkenntnisse sind unter anderem in seinen Büchern „Die Nachhaltigkeitstransformation in Deutschland“ und „Bürgerenergie in Deutschland“ enthalten.
Die wehrhafte Demokratie wurde einst gegen binnenstaatliche Bedrohungen konzipiert, um eine „Übernahme“ durch demokratiefeindliche Bewegungen zu verhindern. Doch einer Bedrohung gegenüber scheint sie blind zu sein: dem „unsichtbaren“ Klimawandel. Woran liegt das? Die moderne Demokratie ist im Kern auf die Wahrung und Durchsetzung des „Gerechten“ und „Guten“ in der Gesellschaft ausgelegt. Das bedeutet die Verbesserung der Lebensbedingungen durch einen proaktiven Rechtsstaat. Nun muss der Staat seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2021 im Futur denken und die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen bereits jetzt durch Klimaschutz sichern. Aber wie soll das gelingen, wenn der Wohlstand gleichzeitig (noch) am fossilen Regime hängt? Seit Ludwig Erhard gründet der „Wohlstand für alle“ in der sozialen Marktwirtschaft: Neben Wirtschaftswachstum werden soziale Sicherung und öffentliche Investitionen in das Gemeinwesen staatlich garantiert. Dies richtet sich insbesondere an die ökonomisch schlechter gestellten Teile in der Gesellschaft. Und so waren in Willy Brandts bahnbrechender Regierungserklärung 1969 mit „Mehr Demokratie wagen“ insbesondere Mitspracherechte für die Industriebeschäftigten gemeint.
Am 15. Dezember 2021 erklärt Bundeskanzler Olaf Scholz: „Hinter uns liegen 250 Jahre, in denen unser Wohlstand auf dem Verbrennen von Kohle, Öl und Gas gründete. Jetzt liegen vor uns etwa 23 Jahre, in denen wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen müssen und aussteigen werden.“ Und er resümiert: „Damit liegt vor uns die größte Transformation unserer Industrie und Ökonomie seit mindestens 100 Jahren.“ Wie diese Transformation demokratisch gelingen soll, bleibt aber völlig offen.
Das Konzept der Klimademokratie bietet hierfür Ansatzpunkte. Mitsprache fordern verschiedene Interessengruppen von der „Letzten Generation“ bis zu windkraftkritischen Bürgerinitiativen ein. Bisherige Erfahrungen aus der Energiewende zeigen: Es gelingt kaum, die Konflikte demokratisch überzeugend zu lösen. Warum? Erstens sind häufig keine Entscheidungsspielräume gegeben, oft lautet das Motto: Windpark ja oder nein. Bürgerbeteiligung an der Planung macht dann wenig Sinn, wenn nichts weiter zur Disposition steht. Zweitens müssen die Benefits der Erneuerbaren auch den lokalen Gemeinschaften zugutekommen: Das reicht von finanzieller Bürgerbeteiligung über Investitionen in die Infrastrukturen gerade strukturschwacher Regionen bis hin zur Stärkung lokaler Energieerzeugung inklusive sozialverträglicher Stromtarife. Und drittens brauchen die lokalen Gemeinschaften mehr Anerkennung für ihre Region, sie wollen nicht „überplant“ werden, sie müssen sich im Transformationsprozess und -ergebnis wiederfinden können – zum Beispiel, indem sie in Bürgerräten beteiligt sind und selbstständig Lösungen entwickeln. Der Schlüssel zum Erfolg: Der Transformationsprozess muss gerecht verlaufen und von den Benefits der Transformation müssen alle Bevölkerungsteile partizipieren können.
Der Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh zeigt mustergültig auf, wie Dorfgemeinschaften an Windenergie- Projekten zerbrechen können. Fatal ist es, wenn Klimaschutz-Rationalität und emotionale Präferenzen lokaler Gemeinschaften gegeneinander ausgespielt werden und Klima-Populismus grassiert. Die wehrhafte Demokratie kann hier weder die kompromisslose Durchsetzung von Klimaschutzpolitiken bedeuten noch, radikale Klimaskeptiker oder Windkraftgegner zu bekämpfen. Die größte Gefahr liegt auch hier in der Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft. Mehr Demokratie durch Beteiligung und Teilhabe in der Nachhaltigkeitstransformation zu wagen, ist daher das Gebot der Stunde.