JOHANNES HEINTGES, Jahrgang 1965, ist seit 2012 Schulleiter der Gesamtschule Kierspe (Sauerland, NRW). Er unterrichtet Philosophie, Deutsch und Gesellschaftslehre. Die Schule hat im November 2022 den bundesweiten Schulpreis der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) gewonnen.
An unserer Schule beschränkt sich die Demokratiepädagogik nicht allein auf den Fachunterricht. An der Gesamtschule Kierspe sollen die Schüler*innen von Beginn an auch selbst Demokratie erleben, ihre eigene Wirksamkeit erfahren und sich so zu überzeugten Demokrat*innen entwickeln.
In einem eigenen Fach DeLe (Demokratie Lernen) beraten die Schüler*innen wöchentlich im Klassenrat ihre eigenen Anliegen – von dem Wunsch nach mehr Bällen in den Pausen über Spannungen innerhalb der Klasse bis hin zur Unzufriedenheit mit dem Unterricht oder Verhalten einzelner Lehrkräfte; nehmen sich selbst explizite Sozialziele vor, die sie einüben wollen, oder sie befassen sich mit Streitschlichtung. Jede Klasse delegiert zwei Abgeordnete in ein Stufenparlament, in dem regelmäßig ihre Anliegen, Wünsche und Forderungen diskutiert und abgestimmt werden. In einem gemeinsamen Treffen der Sprecher*innen aller Stufenparlamente tragen diese ihre Forderungen und Ideen dem Schulleiter vor, bestimmen Verantwortlichkeiten und bilanzieren, wie weit die Umsetzung angestoßener Vorhaben gekommen ist. Als beratende Mitglieder gehören sie der Schulkonferenz an, dem höchsten Entscheidungsgremium der Schule. Auch wenn die Parlamentssprecher*innen kein eigenes Stimmrecht haben, besitzen sie zusammen mit sechs anderweitig gewählten Schüler*innen gegenüber den sechs Lehrer*innen und sechs Elternvertreter*innen eine hohe kommunikative Macht. Wenn sie über die Handynutzung oder die Kleidung diskutieren, dauert eine Sitzung schnell bis in den späten Abend. – Einmal im Jahr wählen alle Schüler*innen in einem Wahllokal (mit den Wahlurnen und Wahlkabinen des Schulträgers) das Team der Schülersprecher*innen, das sich zuvor in einem schulweiten Wahlkampf mit Plakaten, Videos und Veranstaltungen gegenüber anderen kandidierenden Teams mit einem eigenen Programm profiliert hat.
Dies sind Beispiele dafür, wie die Schule rechtlich vorgegebene Strukturen der Mitbestimmung ausgebaut hat. Zudem initiieren Schüler*innen und Lehrer*innen immer wieder politische Debatten und Aktionen, etwa Petitionen, wenn Mitschüler*innen abgeschoben werden sollen; eine Projektwoche zur Situation der Demokratie (nach dem Putsch in der Türkei und der Wahl Trumps); Speed-Datings mit Politiker*innen (vor einer Wahl); einen Fridays-for-Future-Spaziergang zum Bürgermeister.
Das Demokratieprogramm der Schule ist eingebettet in eine Kultur des partnerschaftlichen Umgangs miteinander, in der sich die Schüler*innen als Personen und in ihren Anliegen ernst genommen fühlen, in der Diskussion und Meinungsfreiheit sehr großgeschrieben werden. In eine Kultur pluraler Liberalität, in der die Schüler*innen die Andersheit des anderen als den Normalfall erleben – 50 Prozent der knapp 1.300 Schüler*innen besitzen einen Migrationshintergrund mit 25 Herkunftssprachen. Ehrliche Integration(sarbeit) ist hier gelebter Alltag. Kulturell bedingte Differenzen bilden den Resonanzraum, in dem Schüler*innen und Lehrer*innen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte transparent und im Gespräch miteinander lösen.
Wenn bildungsferne oder fundamentalistisch grundierte Elternhäuser als Vermittler demokratischer Grundhaltungen ausfallen oder Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates infrage stellen, gewinnt die Demokratiepädagogik an Bedeutung. Der eklatante Personalmangel an den Schulen ist auch vor diesem Hintergrund ein großes Übel.
Aus dem Magazin, Ausgabe Juni 2023