Gastbeitrag von Jens HackeWehrhafte Demokratie

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist offensichtlich, dass sich Demokratien gegen innere und äußere Feinde verteidigen müssen. Das neuerdings oft zitierte Konzept der „wehrhaften Demokratie“ reicht in die Zwischenkriegszeit der 1930er-Jahre zurück, als liberale Ordnungen den Bedrohungen des Totalitarismus ausgesetzt waren.

Portrait eines Mannes vor einer Bücherwand
Dr. Jens Hacke (privat)
DR. JENS HACKE lehrt und forscht als Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin zur politischen Ideengeschichte der Demokratie. Zuletzt erschien in der Europäischen Verlagsanstalt sein Buch „Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Weimar und die Gegenwart“ (2021).

Zum Bewusstseinszustand der liberalen Demokratie gehörte es lange Zeit, die viel beschworene „freiheitlich demokratische Grundordnung“ als das logische Ende der Geschichte anzusehen. Freie persönliche Entfaltung, eine leistungsfähige Ökonomie und ein hoher Lebensstandard schienen bisher ein weltweit nachahmungswürdiges Modell zu liefern. Diese Überzeugung hat im vergangenen Jahrzehnt mehrere Dämpfer hinnehmen müssen. Wirtschaftskrisen, Migrationsströme und gesellschaftliche Verunsicherungen haben in westlichen Gesellschaften zu Selbstzweifeln und zu populistischen Gegenbewegungen geführt, während sich gleichzeitig – angeführt von China und Russland – eine autoritäre Internationale formiert hat, die Demokratie und Liberalismus offen bekämpft.
Spätestens nach der Wahl Donald Trumps zum USPräsidenten im Herbst 2016 war allenthalben vom Scheitern der Demokratie die Rede. Der Westen wirkte lethargisch und machtlos; die jahrelange Fixierung auf Frieden und Wohlstand hatte den Sinn für Gefahren merklich getrübt. Kluge Historiker wie Timothy Snyder und David Runciman markierten die Parallelen zur Lage der 1930er-Jahre, als demokratische Staaten von innen und außen bedroht wurden. Antiliberale totalitäre Ideologien nutzten damals die Schwächen freier Gesellschaften, um den Parlamentarismus, die demokratische Öffentlichkeit und den Rechtsstaat zu unterminieren. Nachdem das westliche Modell nach dem Ersten Weltkrieg gesiegt zu haben schien, durchlitt es angesichts der sowjetischen, faschistischen und nationalsozialistischen Bedrohung eine Existenzkrise. Wie Dominosteine fielen die jungen Republiken in Italien, Deutschland, Spanien und Österreich.
Damals wie heute führte eine zwar verständliche, aber politisch fatale Friedenssehnsucht in demokratischen Gesellschaften zur weitgehend passiven Hinnahme autoritären Machtstrebens. Die Appeasement- Politik kam den revisionistischen Forderungen der NS-Diktatur in der Hoffnung entgegen, einen Krieg abzuwenden – und verkannte den expansivimperialistischen Charakter von Hitlers Herrschaft. Der Vergleich mit Putins Annexion der Krim und dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht weit hergeholt.
In den 1930er-Jahren artikulierten liberale Demokraten – gebrannte Kinder der Weimarer Republik – die Notwendigkeit, sich willensstark und entschlossen gegen die Feinde des Staates zu wehren. Der Staatsrechtler Karl Loewenstein, ein Schüler Max Webers, brachte 1937 im amerikanischen Exil eine verbreitete Überzeugung auf den Begriff: „militant democracy“, Vorläuferin der heute oft beschworenen „wehrhaften Demokratie“. Loewensteins Konzept verströmt den existenziellen Ernst der damaligen Situation. Der Staat sollte nicht nur in die Lage sein, Verfassungsgegner zu bekämpfen, sondern in den Bürger*innen den Geist wecken, auch gegen äußere Bedrohungen Widerstand zu leisten. Auch Thomas Mann, die wichtigste politische Stimme der deutschen Emigration, nahm dieses Bild militanter Selbstbehauptung in seine Rede „Vom kommenden Sieg der Demokratie“ (1938) auf. Mann und Loewenstein, übrigens gut miteinander bekannt, wussten, dass Appelle nicht reichen. Für Krisen muss man vorbauen und die demokratische Lebensform in einer freiheitlichen politischen Kultur pflegen.
Die Einsicht, dass Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand keineswegs für immer gesichert sind, sondern die innerliche Zustimmung und den willigen Einsatz der Bürger*innen verlangen, hat seither nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Demokratische Wehrhaftigkeit – das zeigt der aufopferungsvolle Kampf der Ukraine – entfaltet ihre Kraft, wenn Menschen feste Überzeugungen von einem Leben in Freiheit teilen und sich gemeinsam für eine bessere Zukunft einsetzen.
Ein ausführliches Gespräch mit Jens Hacke in der Deutschlandfunk-Sendung „Kulturfragen“ hören Sie hier:
Wehrhafte Demokratie - Sich zu wehren ist nicht nur Recht, sondern Pflicht | deutschlandfunk.de

Aus dem Magazin, Ausgabe Mai 2023