Martina Zilla Seifert, Frauenbeauftragte in verschiedenen Institutionen, Gewerkschaftssekretärin, seit 1994 durchgängig im Schulbereich tätig, Moderatorin für kooperatives Lernen und Schulentwicklungsberaterin für Schulen im Aufbau, seit 2015 Schulleiterin der Gesamtschule Körnerplatz in Duisburg, Vorsitzende Green-Institut Rhein-Ruhr.
Ein Gastbeitrag zur Deutschlandradio Denkfabrik: Auf der Suche nach dem „Wir“
Unsere Schule begleitet viele Schülerinnen und Schüler mit Flucht- oder Armutserfahrung. Sie liegt in einer der ärmsten Kommunen der BRD. Zeitweise waren 50 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer im Seiteneinstieg beschäftigt, die im Vergleich zu ihren ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen unterdurchschnittlich bezahlt wurden.
Die damit verbundenen Herausforderungen begründen die für die Schule wichtige Kollaboration und das kooperative Lernen, ein Konzept, das über den eigentlichen Unterricht weit hinausreicht. In allen Klassen finden sich Tischgruppen mit jeweils vier Schülerinnen und Schülern, die – so nannten es Norm und Kathy Green, die das kooperative Lernen in die BRD brachten – in der Kooperation „trainiert“ werden. Norm Green leitete das Board of Education in Durham, das 1996 von der Bertelsmann Stiftung als innovativstes Schulkonzept im internationalen Vergleich ausgezeichnet wurde.
Alle Mitglieder einer Tischgruppe in der Klasse stehen in engem Austausch, nehmen feste Rollen ein und erfahren, dass sie nur gemeinsam eine Aufgabe lösen können. Kooperation muss aber zuerst entfacht werden: Die Arbeitsphasen fangen mit einem Warm-up an, in dem es persönliche, lustige, traurige Fragestellungen gibt, die das Kennenlernen, Vertrauen fassen als Grundlage jeglicher Kollaboration initiieren. Dann erst können die Aufgaben gemeinsam bearbeitet werden. Kooperatives Lernen ist also eine kongeniale Verbindung aus fachlichem und sozialem Lernen. Ein zentraler Baustein dabei ist die „Akademische Kontroverse“: Die Schülerinnen und Schüler bekommen zu einem Debattenthema Positionen zugewiesen, aus denen heraus sie in einem ersten Schritt argumentieren müssen. Im Laufe der Kontroverse müssen die Schülerinnen und Schüler die Gegenposition einnehmen und die Perspektive wechseln. Erst am Ende werden sie aufgefordert, ihre Meinung begründet zu äußern. Diese Debatten sind das Herzstück des kooperativen Lernens – sie fordern das Denken, die Ambiguitätstoleranz heraus, sie fördern die Kollaboration, holen die Schülerinnen und Schüler aus demokratiefeindlichen „Blasen“ – sie sind somit ein Gegenentwurf zu herrschenden gesellschaftlichen Erscheinungen und zeigen Schülerinnen und Schülern, wie es sich anfühlt, wenn sich der Erkenntnisraum weitet. Hier erfahren Schülerinnen und Schüler auch, dass sie einander brauchen, um Einsichten zu gewinnen.
Die Gattung Mensch hat bisher allein durch Kooperation überlebt. Dennoch ist die Schule als der Raum, der das Gemeinwesen sichern soll, nicht auf Kooperation angelegt. Es herrscht immer noch ein zweifelhafter, durchaus als autoritär zu bezeichnender Frontalunterricht vor. Enge Zeitfenster in Bezug auf die Stundentaktung und die Fächer sind hinderlich, wenn man kollaborativ arbeiten will. Schulen, die sich auf ein solches Lernkonzept einlassen, verändern ihren Lernalltag, gehen weg von den Fächern und lassen Zeit und Raum dafür, dass sinnvoll gelernt wird.
Die Schülerinnen und Schüler, die zu uns kommen, wollen erst einmal nicht kooperieren. Das Umfeld, die „Blase“, die Homogenität, in der sie sich befinden, tun hier ein Übriges – sie schüren Verzweiflung und in Verzweiflung gedeiht die Wut, die Gewalt! Die Freude der Lehrerinnen und Lehrer ist riesengroß, wenn die Kooperation der Schülerinnen und Schüler beginnt, wenn es zu tragfähigen Beziehungen kommt, wenn die schönen Sätze, die sich in sogenannten Schatzkästchen auf den Gruppentischen befinden, benutzt werden. Die Schülerinnen und Schüler erfahren, dass es ein gutes Gefühl ist, wenn ich darum bitte, mich zu unterstützen. Wichtig sind Rückmeldungen untereinander wie: „Das hast du wirklich gut gemacht. Du hast mir wunderbar geholfen.“
Freundlichkeit verändert auf Dauer das Miteinander. Darüber und über den Unterricht sprechen wir ausgiebig mit den Schülerinnen und Schülern. So arbeiten wir als Lehrerinnen und Lehrer daran, wie der Unterricht wirkt. Schule wird damit auch ein Ort, an dem Demokratie gelebt und gelernt wird, weil alle für das Lernen verantwortlich sind.
Aus dem Magazin, Ausgabe August 2021