Mely Kiyak ist Schriftstellerin, zuletzt erschienen bei C. Hanser München „Frausein“ (2020) und „Werden sie uns mit FlixBus deportieren?“ (2022). Sie wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem dem Kurt-Tucholsky-Preis (2021) für literarische Publizistik und dem Theordor-Wolff-Preis. Mely Kiyak ist außerdem Kolumnistin für Zeit Online, das Maxim Gorki Theater und das digitale Magazin Republik (Zürich).
Hallo Radiofreundinnen und Freunde, machen wir uns nichts vor, ich wurde eingeladen, 60 Jahre Deutschlandfunk abzujubeln, und na klar macht es absolut keinen Unterschied, ob ich die Konfettikanone über 60, 70 oder 130 Jahre Dee-Ell-Eff abfeuere, denn runde Geburtstage sind nur deshalb wichtig, weil irgendwer behauptet, sie seien wichtig. Sind sie natürlich nicht, denn, was ist schon wichtig in dieser Welt? Ich feierte in meinem Leben nur einen runden Geburtstag, nämlich meinen eigenen, und es war mit Abstand genau das Fest, das ich am meisten bereute, denn ich gab eine Menge Geld für die Bewirtung und Bespaßung von Leuten aus, mit denen ich bereits ein halbes Jahrzehnt später keinen Kontakt mehr hatte. Nicht missverstehen, das ist jetzt ganz sicher keine Allegorie, Analogie oder Vergleich (ich verwechsele die Begriffe immer) aufs Radio; ich will damit nur sagen, man sollte gemütlich und in Ruhe vor sich hin altern und seine Sache machen, denn all die Leute, denen man einst gefallen wollte, interessieren einen später nicht mehr, dahinter steckt wirklich keinerlei tiefere Erkenntnis. Okay, 180 Jahre Deutschlandfunk. Was war schön, was war schlecht? Ehrlich, ich habe absolut keine Ahnung. Ich weiß über den Deutschlandfunk nur, dass wenn an den Peripherien deutscher Provinzen gar kein Sender mehr über das UKW-Autoradio „zieht“, dann ist der Deutschlandfunk der einzige Sender, der ohne Rauschen und Räuspern der Ultrakurzwellen mit klarem Klang zu hören ist. Und immer trifft man auf ein Feature oder Hörspiel, das man ohne diesen Zufallsmoment nie gehört hätte. Da gab es diese Lange Nacht vom Nürnberger Prozess, an die ich mich gerade erinnere, die ich vor Jahren irgendwann auf dem Weg nach Irgendwo hörte, und die mich angesichts der originalen Audiodokumente aufwühlte wie selten etwas zuvor. Ich verdanke dieser Stunden andauernden Radionacht mein ganzes Wissen über die Nürnberger Prozesse, so dass ich noch heute, Jahre später, aus dem Stand über dieses Justizkapitel referieren kann (und es auch manchmal tue) und stets Bewunderung ernte, weil alle meinen, ich hätte ein paar Semester Geschichte studiert, aber nein, ich habe das nicht studiert, ich hörte Radio. So etwas Tolles und Aufsehenerregendes gibt es nicht auf Antenne Laberradio und Dudelfm, so etwas gibt es nur im Deutschlandfunk, dem Radio für Leute mit zärtlicher Neugier auf die Welt. Wer noch drei Sätze am Stück auffassen kann, ohne innerlich die Synapsen abzudrehen, der ist hier genau richtig.
Ach, nun fällt mir doch etwas ein, das ich dringend und aus tiefstem Herzen bejubeln möchte, von dem ich aber gar nicht weiß, ob es das im Deutschlandfunk noch gibt: Als Geschenk für ein Probeabonnement des Magazins Der Spiegel erhielt ich ein Reiseradio. Das ist sicher schon 20 Jahre her. Dieses Radio nahm ich auf meine oft mehrmonatigen Schreibklausuren mit und hörte, ganz gleich, auf welchem Breiten- und Höhengrad ich gerade unterwegs war, den mitternächtlichen Seewetterbericht zum Einschlafen: „Skagerrak: Südwestliche Winde 5 bis 6, Kattegat: Südwestliche Winde 5 bis 6, vorübergehend Gewitterböen, See 1,5 Meter.“ Es war, als schunkelte ich einsam über die Weltmeere im Takt der Gezeiten und Böen, mal ruhig und sicher, mal durch aufgepeitschte See, die schäumende Gischt auf dem Kissenzipfel.
Ich mache es kurz: Deutschlandfunk, große Schwester aller Podcasts, Königin der Drähte und Frequenzen, an dieser Stelle wurden schon alle wichtigen Worte über Dich gesprochen und sie haben sicher alle recht, wenn sie sagen, dass Du die Behüterin aller unserer Werte und Sehnsüchte bist. Bei Dir finden wir Kunst und Schönheit, Plaudern und Politik, das Seufzen über die Zeitläufte aber auch Swing und Schwoof. Freiheit ist ein flüchtiger Vogel, wem erzähle ich das, meine Freundin, bitte bleib und flieg nicht weg. Die anderen Gratulanten ehrten Dich mit ihrem Verstand und ihrem Wissen, ich aber liebe Dich mit meinem Ohr!
Happy Birthday alte Welle, verlass mich nicht!
Hörtipp: Zwischentöne mit Mely Kiyak (vom 26.09.2021)