Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Sie forscht seit Langem zu Fragen der Prekarisierung von Arbeit. Zuletzt hat sie mit Oliver Nachtwey das Buch „Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft“ veröffentlicht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt (West-)Deutschland als Staat, in dem Lohnarbeit besonders gut abgesichert war. Wer seine Existenz durch Verkauf der eigenen Arbeitskraft sicherte, war meist gesetzlich sozialversichert. Das Arbeitsrecht wurde immer weiter ausgebaut. Arbeitskraftmangel, aber auch starke Gewerkschaften und Betriebsräte (speziell in der „großen Industrie“) sorgten dafür, dass Löhne und Gehälter kontinuierlich stiegen und eine besondere Form sozialpolitisch wie tariflich abgesicherter Lohnarbeit entstand: das „Normalarbeitsverhältnis“ (NAV). Es war nie in dem Sinne „normal“, dass es für alle gegolten hätte: Viele Frauen waren nicht oder in Teilzeit erwerbstätig, und Migrant*innen arbeiteten oft mit reduziertem Schutz. Aber der Anteil derer, die ein NAV hatten, wuchs kontinuierlich, und es prägte die Vorstellungen von einer guten, ordentlichen Arbeit.
Mitte der 1980er wendete sich das Blatt: Im Zeichen steigender Arbeitslosigkeit förderten Regierungen (fast) aller Couleur Jobs, die hinter NAV-Standards zurückblieben. Mehr rechtliche Spielräume für Leiharbeit und Befristungen, regelmäßige Erhöhungen der Einkommensgrenzen für Minijobs (die von der Sozialversicherung ausgeschlossen sind), die Förderung von Alleinselbstständigkeit (etwa als „Ich-AG“) und größerer Druck auf Arbeitslose, weil „(fast) jeder Job besser als keiner“ sei – all das summierte sich zu einer Politik der Prekarisierung, welche die Arbeitsund Lebensbedingungen von immer mehr Menschen verschlechterte. Gerhard Schröder (SPD) betonte 2005: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ Heute lebt etwa jede*r vierte abhängig Beschäftigte in diesem Teil des Arbeitsmarktes „von der Hand in den Mund“.
Unternehmen können durch prekäre Randbelegschaften Personalkosten senken und die Stammbelegschaft stabilisieren – in Krisenzeiten (etwa ab 2008 oder in der Pandemie) werden Leiharbeiterund Minijobber*innen als Erste nach Hause geschickt. Für Beschäftigte hingegen heißen geringe Löhne: von Partner oder „Aufstocken“ abhängig, auf mehrere Jobs angewiesen, von Armut im Alter bedroht zu sein. Prekäre Arbeitsverträge bedeuten, das eigene Leben nicht planen, bestehende Rechte nicht durchsetzen zu können, weil man selbst den miesesten Job nicht verlieren will. Man leistet viel (etwa in Verkauf, Paketzustellung oder industrieller Hilfsarbeit), körperlich wie psychisch, erhält aber wenig gesellschaftliche Anerkennung. Wer häufig den Job wechselt, kennt Kolleg*innen oder Kund*innen kaum, und wer weder durch Betriebsrat noch Gewerkschaft vertreten wird, steht dem Unternehmen im Konflikt allein gegenüber. Diese Erfahrungen hat die „Working Class“ seit jeher gemacht, doch dreierlei ist neu: Wie deutlich das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit nach jahrzehntelanger gezielter „Entsicherung“ von Arbeit (wieder) hervortritt. Dass Prekarisierung, aber auch Arbeitsdruck und die Missachtung professioneller Standards immer größere Teile der „arbeitenden Klasse“ betreffen (weil Renditevorgaben dazu führen, dass Kranke nicht so gepflegt, Werkstoffe nicht so geprüft, Gebäude nicht so gereinigt werden können, wie es notwendig wäre). Und dass Tätigkeiten in Pflege, Einzelhandel, Erziehung, Nahrungsmittelproduktion und -verteilung usw., die der Reproduktion von Arbeitskraft dienen und oft besonders prekär sind, neuerdings als „systemrelevant“ gelten. Grund genug, den Blick darauf zu richten, wie in diesen Jobs gearbeitet und gelebt wird, wer Prekarität fördert und davon profitiert und wie sie beseitigt werden kann. Denn eine demokratische Gesellschaft verträgt dieses Ausmaß von Ungleichheit nicht.
Aus dem Magazin, Ausgabe Januar 2022