Gastbeitrag von Dr. Hubert WinkelsLiteraturkritik heute

Der Weg ins Büro. Wie kann die Literaturkritik an die tiefen Quellen der schönen Literatur, der Poesie anknüpfen? Wie kann sie sich zwischen den Kräften der Weltbegründung und der Weltüberwindung einrichten? Mit einer Prise Ironie und erzählend knüpft Hubert Winkels an seine „Klagenfurter Rede zur Literaturkritik“ an.

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Dr. Hubert Winkels, Autor zahlreicher Bücher zur Gegenwartsliteratur, war bis Anfang dieses Jahres Literaturredakteur im Deutschlandfunk. Er hat den Wilhelm Raabe- Preis mitbegründet und war viele Jahre Juryvorsitzender beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt.
Inhalte überwinden war jahrelang in großen Lettern auf einer Redaktionstür der Kulturabteilung von Deutschlandfunk zu lesen. Ausgerechnet bei der Pop-Redaktion der täglichen Sendung „Corso“. Ebenso täglich kam ich an dieser satzzeichenlosen Aufforderung vorbei. Ich musste sie jedes Mal zwanghaft murmeln, meist gedankenlos, manchmal zu plötzlichen Einfällen animiert. Zum Beispiel, dass es eine Kulturredaktion doch schmücke, wenn sie die Dominanz, ja die Absolutheit der Form propagiert; erst recht, wenn sie sich der Musik hingibt, der Kunstform mit den stärksten antirealistischen Impulsen.
Oder ein anderer Gedanke: Was heißt das eigentlich, und wie funktioniert es: „Überwinden“? Der Begriff „Sublimieren“ als Psychotechnik zur Kulturbegründung ist ja aus der Mode gekommen. Dass Jesus den Tod überwunden hat in der österlichen Auferstehung ist hingegen eine Art motivische Hintergrundstrahlung für jede Idee einer Befreiung von der materiellen Welt. Selbst im ekstatischen Feiern ist sie noch spürbar, in den dionysischen Momenten der Überwindung der Schwerkraft des Herkommens, der sozialen Markierung, des alten Adam eben.
Der Literaturkritiker kehrt zu seinem Büro zurück mit der Frage, wie es sich denn mit seinem Arbeitsmittel, das zugleich sein Arbeitsgegenstand ist, verhält, mit der Sprache. Welchen Beitrag zur Inhaltsalso zur Welt-Überwindung ein formbewusstes Sprachkunststück leisten kann. Inhalte sind Sinngebilde, deren älteste und vornehmste Ausformung poetischer Natur ist. Am entstehungsgeschichtlichen Anbeginn trifft sie auf die noch nicht von ihr geschiedene religiöse Formgebung. Im sprachlichen Laboratorium wird diese Inhalt=Welt erst erzeugt und weitergezeugt durch die Zeiten bis zu dem Punkt, wo dieser Entstehungsprozess selbst transparent wird. 
Wenn die schöne Literatur nun das Muster, die Mutter aller Sinnerzeugung ist, wie verhält sich die Literaturkritik zu dieser versteckten Allmacht? Wir schreibenden Leser sind doch nicht nur sekundäre Empfänger tieferer Botschaften aus der poetischen, der hervorbringenden Kunst. Wir Kritiker kollaborieren mit ihr in Verstehensakten. Wo der Autor die sprachliche Einrichtung der Welt durchdringt, um sie zu dekonstruieren, betrachten wir Kritiker die Form, in der das geschieht. Und mehr als das: Wir nehmen die Muster und Regeln der Sprachspiele, um mit ihnen weiterzuspielen, d.h. die ambitionierte Kritik ist selbst poetischer Natur. Ein Grundgedanke der romantischen Literaturtheorie übrigens, namentlich von Friedrich Schlegel. Wir bauen mit an den Verstrebungen der Welt und zugleich an den medialen Möglichkeiten, sie einzureißen und ins Jenseits davonzufliegen. Wir bauen mit an den Inhalten und wir überwinden sie in ein und demselben Arbeitsprozess.Eine phantastische Tätigkeit, die als Beruf allzu nüchtern bezeichnet ist. 
Ich öffne die Tür zu meinem Literaturredaktionszimmer, lese die neuen E-Mails. Darunter auch eine Aufforderung zu einem Seminar über ein CMSUpdate. Das ist: Content Management System (System der Inhaltsverwaltung). Es erfordert die Präparierung eines inhaltlichen Kerns jeder medial zu vermittelnden Botschaft: linear, online, Social Media, Apps, Druck, Podcast. Doch genau dieser Inhalt existiert nicht außerhalb seiner Form. Dass er wesentlich Form ist, weiß die Literatur. Dass er gar nicht existiert, weiß, anders als die politische oder wirtschaftliche Informationsdarstellung, eine Kritik, die Teil der Literatur selbst zu sein beansprucht. In der Regel nur heimlich. Aus Bescheidenheit. Oder weil sie ansonsten der Anmaßung geziehen wird. Da schließe ich doch schnell die Bürotür.

Aus dem Magazin, Ausgabe September 2021