In „Das große Heft“ sind zwei Brüder bei ihrer Großmutter der Grausamkeit des Kriegs ungeschützt ausgesetzt. Die Zwillinge erfahren, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Ihre Beobachtungen schreiben sie nieder im großen Heft. Das in der Bearbeitung und Regie von Erik Altorfer produzierte Hörspiel war erstmals am 18. September im Deutschlandfunk zu hören und wird nun am 4. Dezember um 20.05 Uhr wiederholt.
Zur Begründung für die Wahl erklärt die Jury der Akademie der Darstellenden Künste: „Beunruhigend“, „Großartig“, „Stark“: So lauteten die ersten Kommentare der Jury zu dieser Hörspieladaption von Ágota Kristófs Romanbestseller „Das große Heft“. Natürlich bietet ein starker Ausgangstext eine gute Grundlage für eine gelungene akustische Umsetzung. Erik Altorfer hat es aber geschafft, gemeinsam mit dem Komponisten Martin Schütz eine atmosphärische Dichte zu kreieren, die das Werk über den Text hinaus zu einem beeindruckenden Hörerlebnis macht.
Zwei Brüder werden zu Kriegsbeginn der Obhut der Großmutter übergeben. Es sind Zwillinge deren Stimmen im Hörspiel von Libgart Schwarz und Kristof van Boven gesprochen werden. Sie erzählen in schonungsloser Genauigkeit und im sachlichen Ton von der Gefühlskälte, Verarmung und Gewalt, der sie von nun an ausgesetzt sind.
Die beiden Geschwister beginnen sich an diese Umgebung anzupassen. Sie versuchen sich mental und körperlich abzuhärten, unterrichten sich selbst und legen ein Heft mit allen Erlebnissen an. Für ihr Überleben werden sie zu Dieben, Bettlern, Rächern und Mördern. Lernen aber auch anderen zu helfen und nach eigenen Moralvorstellungen zu handeln.
Kristófs unverwechselbarer Schreibstil bleibt im Hörspiel erhalten. Kurze Sätze in einfacher Sprache und größter Direktheit entfalten gemeinsam mit einer klaren Musiksprache einen vielschichtigen Hörraum. Die ruhigen Melodien drängen sich nie vor die beklemmenden Zustandsbeschreibungen einer verrohten Gesellschaft, bleiben jedoch immer präsent und geben den Rhythmus des Stücks vor. Es sind aber vor allem die beiden Stimmen von Schwarz und van Boven von denen man unweigerlich gefangen wird. Die eindringlichen Berichte in direkter und indirekter Rede, im Duett gesprochene Sätze und Satzwiederholungen wechseln sich mit kunstvoll gesetzten Pausen ab. Besonders diese Momente der Stille verleihen der Brutalität des Gesagten noch mehr Nachdruck.
Auch die formale Strenge der Originalvorlage bleibt im Hörspiel erhalten, der dramaturgisch gut strukturierte Text greift kein Wort zu viel und kein Bild zu wenig aus Kristófs Roman heraus. Mit der Hörspielfassung von „Das große Heft“ ist eine perfekte Komposition aus Sprache, Stimmen, Stille und Musik gelungen.
„Das große Heft“
von Ágota Kristóf
Bearbeitung und Regie: Erik Altorfer
Redaktion: Sabine Küchler
mit Libgart Schwarz, Kristof Van Boven
Komposition: Martin Schütz
Ton und Technik: Franz Baumann
Produktion: Deutschlandfunk/HR/SRF 2021
Länge: 113‘
von Ágota Kristóf
Bearbeitung und Regie: Erik Altorfer
Redaktion: Sabine Küchler
mit Libgart Schwarz, Kristof Van Boven
Komposition: Martin Schütz
Ton und Technik: Franz Baumann
Produktion: Deutschlandfunk/HR/SRF 2021
Länge: 113‘
Ágota Kristóf, geboren 1935 in Csikvánd, Ungarn, flüchtete 1956 aus ihrer Heimat und emigrierte in die Schweiz. Sie fand Arbeit in einer Uhrenfabrik und erlernte die französische Sprache, in der sie fortan ihre Bücher – Prosa, Theaterstücke und zwei Hörspiele – schrieb. Ihre Werke wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Ágota Kristóf starb 2011 in Neuchâtel.
Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zeichnet jeden Monat ein Hörspiel aus den Produktionen der ARD-Anstalten aus. Die Entscheidung über das Hörspiel des Monats trifft eine Jury, die jeweils für ein Jahr unter der Schirmherrschaft einer ARD-Anstalt arbeitet. Am Ende des Jahres wählt die Jury aus den zwölf Hörspielen des Monats das Hörspiel des Jahres.