Zwischen Kauderwelsch und KlartextWie verständlich sprechen Abgeordnete im Bundestag?

Studie hat knapp 100 Haushaltsreden untersucht

Bettina Stark-Watzinger FDP, Bundesministerin fuer Bildung und Forschung, aufgenommen im Rahmen einer Regierungsbefragung im Plenum des Bundestages. Berlin, 21.02.2024
Bettina Stark-Watzinger, Bundesministerin fuer Bildung und Forschung, aufgenommen im Rahmen einer Regierungsbefragung im Plenum des Bundestages (IMAGO/photothek/Thomas Trutschel)
Die Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion und die Universität Hohenheim präsentieren Studienergebnisse zur Verständlichkeit im Bundestag: Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger erzielte die besten Ergebnisse. Olaf Scholz sprach formal etwas verständlicher als Friedrich Merz. Untersucht wurden 96 Reden aus den Aussprachen zu allen Einzelplänen des Bundeshaushalts.
Auf Anregung der Deutschlandfunk-Nachrichten hat die Universität Hohenheim die formale Verständlichkeit von beinahe 100 Bundestagsreden aus der Haushaltsdebatte im vergangenen September untersucht (5.-8.9.2023). Die kommunikationswissenschaftliche Analyse anhand von festgelegten sprachlichen Parametern betrifft – wie schon bei einer Untersuchung im Vorjahr – sämtliche Themenfelder dieser Debatte sowie alle Parteien und Fraktionen.
Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger hält die formal verständlichste Rede
Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger lieferte bei der Debatte über den Einzelplan ihres Ministeriums die formal verständlichste Rede ab. Schon in der Untersuchung 2023 hatte sie mit ihrem Debattenbeitrag weit vorne gelegen. Jens Spahn (CDU; Einzelplan des Wirtschaftsministeriums) folgt auf Platz zwei im Gesamtranking. Platz drei teilen sich mehrere Politikerinnen und Politiker: Gesine Lötzsch (Linke; Einzelplan des Finanzministeriums), Victor Perli (Linke; Einzelplan Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen), Reinhard Brandl (CDU; Einzelplan Digitales und Verkehr) und Sepp Müller (CDU; Einzelplan des Gesundheitsministeriums). Die formal unverständlichsten Reden hielten Claudia Raffelhüschen (FDP; Einzelplan des Familienministeriums) und Agnieszka Brugger (Grüne; Entwicklungsministerium). Ihre Sätze sind im Schnitt etwa doppelt so lang wie jene von Stark-Watzinger.
Für das Kabinett wurde ein eigenes Ranking erstellt: Hinter Stark-Watzinger folgen auf den Plätzen zwei und drei Wirtschaftsminister Robert Habeck und Arbeitsminister Hubertus Heil. Beide haben damit im Vergleich zu 2022 Plätze gutgemacht. Den letzten Platz belegt – erneut – die Rede von Umweltministerin Steffi Lemke. In der traditionell besonders beachteten Aussprache über den Kanzleretat schnitt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in puncto formaler Verständlichkeit etwas besser ab als Unionsfraktionschef Friedrich Merz. Scholz und Merz liegen mit ihren Reden allerdings nur auf Platz vier und sechs innerhalb dieser Debatte. Im Gesamt-Vergleich aller Rednerinnen und Redner landen die beiden mit ihren Reden nur auf den Plätzen 57 bzw. 71.
Knapp 30 Prozent der Reden sind weniger verständlich als Reden von DAX-Vorstandsvorsitzenden 
Prof. Dr. Frank Brettschneider und Dr. Claudia Thoms von der Uni Hohenheim sind mit der Verständlichkeit der Reden im Ganzen zufrieden. Insgesamt halten die Politikerinnen und Politiker das hohe Niveau von 2022. „Im Schnitt sind die Haushaltsreden etwas verständlicher als die Reden der Vorstandsvorsitzenden auf den Jahreshauptversammlungen der DAX-40-Unternehmen. Dennoch ist bei einigen noch Luft nach oben“, so Frank Brettschneider. Knapp 70 Prozent der Reden erreichen mindestens das Verständlichkeitsniveau der Wirtschaftsbosse. Das heiße aber auch: Knapp 30 Prozent der Haushaltsreden – darunter Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien – liegen unter dem Verständlichkeitsniveau der zum Vergleich herangezogenen CEO-Reden aus dem Jahr 2023. Claudia Thoms nennt die typischen Verständlichkeitshürden: „Fremdwörter und Fachwörter, Wortkomposita und Nominalisierungen, Anglizismen und ‚Denglisch‘, lange Sätze – all das erschwert die Verständlichkeit“.
Verständliche Vermittlung komplexer Zusammenhänge immer wichtiger
Deutschlandfunk-Nachrichtenchef Dr. Marco Bertolaso betont: „Die verständliche Vermittlung komplexer Zusammenhänge wird für den Informationsjournalismus immer wichtiger. Deswegen werden wir uns in der Nachrichtenredaktion dieses Jahr mit dem Thema Verständlichkeit verstärkt beschäftigen. Angesichts einer kaum noch überschaubaren Menge an Informationen reagieren viele Menschen mit Nachrichtenvermeidung oder werden empfänglich für schlichte Parolen. Auch die Politik ist hier in der Verantwortung.“ Bertolaso fordert: „Abgeordnete, aber auch Ministerien und Behörden müssen besser erklären und zugleich der Versuchung widerstehen, auf PR-Floskeln oder Polemik im Stil mancher Social-Media-Accounts zurückzugreifen.“ Die gesamte Untersuchung der Universität Hohenheim ist hier abrufbar: https://komm.uni-hohenheim.de/aktuelle-infos
Weitere Informationen hier.
Hintergrund: Der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“
Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider und sein Team forschen seit 2007 zu einer Vielzahl von sprachlichen Parametern, mit denen man die formale Verständlichkeit von Texten und Reden möglichst objektiv messen kann. Dafür setzen sie eine für diesen Zweck entwickelte Verständlichkeitssoftware ein. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z. B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze und den Anteil abstrakter Wörter). Aus diesen Werten setzt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ zusammen. Er bildet die Verständlichkeit von Texten auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) ab.

Mit Hilfe des „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ wurden so in den letzten Jahren etwa Wahlprogramme und Koalitionsverträge, Pressemitteilungen von Unternehmen und Ministerien sowie Reden von Vorstandsvorsitzenden auf den DAX-Hauptversammlungen untersucht. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 4,3 Punkten. Politik-Beiträge überregionaler Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt oder der Süddeutschen Zeitung kommen auf Werte zwischen 11 und 14. Die Reden in der aktuell untersuchten Haushaltsdebatte erreichten im Schnitt einen Wert von 15.