Ganz sicher ist der Humor Saša Stanišićs besondere Gabe. Nicht nur, weil dieser vermeintlich federleichte Witz die Bücher des 1978 in Višegrad in Bosnien und Herzegowina geborenen Schriftstellers so ungeheuer unterhaltsam und einnehmend macht. Vor allem ermöglicht ihm der Humor überhaupt erst das Erzählen auch über schmerzhafte, schwere Themen − über Themen wie Migration und Diskriminierung, Krieg und Heimatverlust.
Erfahrungen, die Saša Stanišić selbst gemacht hat: Als Jugendlicher musste er mit seinen Eltern vor dem Krieg in Bosnien fliehen und ist in Heidelberg aufgewachsen. Seit seinem Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ im Jahr 2006 lassen sich immer wieder Verbindungen finden zwischen Saša Stanišićs Biografie und seinem Schreiben – sei es in „Vor dem Fest“ (2014), „Fallensteller“ (2016) oder „Herkunft“ (2019). Und das ist auch in seinem jüngsten Buch der Fall: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“. Man kann dieses Buch ebenso als Erzählband wie als Roman lesen, vor allem aber als eine Art Bilanz des Schriftstellers.
Der Kern des Buches steckt bereits in dessen Titel: Es ist auch in tiefem Schmerz möglich, Souveränität über das eigene Leben zu erlangen. Sich selbst zu ermächtigen. Die titelgebende Witwe etwa verlangt es nach einem neuen Partner – und genau das kann sie durch die Platzierung der Gießkanne auf dem Grab ihres verstorbenen Mannes anzeigen und verwirklichen. In einer anderen Episode steht ein Familienvater im Zentrum, der nicht mehr daran verzweifeln möchte, gegen seinen kleinen Sohn im Memory-Spiel zu verlieren – und der dementsprechende Vorkehrungen, sprich: Manipulationen, trifft. Das Berückende: Saša Stanišić nimmt die Nöte dieses eher skurrilen Zeitgenossen ebenso ernst wie die der wesentlichen Protagonisten des Buches. Das sind ein paar Jugendliche, die in einer Heidelberger Hochhaussiedlung aufwachsen und deren Familiengeschichten durch Migration geprägt sind, deren Alltag prekär ist und von Diskriminierung und Marginalisierung bestimmt wird – und die sich natürlich auch in eine andere Zukunft hineinträumen, wenngleich ihre Aussichten darauf kaum vielversprechend sind. Einem dieser Jugendlichen, einem Jungen namens Saša, gelingt dieser Entwurf einer anderen Zukunft durch Literatur. Durch das Lesen von Heinrich Heine etwa.
„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ birgt auf diese Weise nichts weniger als die frühromantische Utopie: Das Dasein lässt sich durch Literatur in etwas anderes, Besseres verwandeln. „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder“, so hat es der frühromantische Dichter Friedrich von Hardenberg, besser bekannt als Novalis, einst formuliert. Das Werk Saša Stanišićs, das im Jahr 2024 mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wird, ist der famose Beweis dafür, dass dieses Credo noch immer das Wesen von Literatur ausmachen kann.
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Mi., 6./13./20.11., 20.30 Uhr
Lesezeit
Sa., 30.11., 20.05 Uhr
Studio LCB
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